Interview mit Herrn Rieckmann, Entwickler des mathildr Systems

Interview mit Herrn Rieckmann, Entwickler des mathildr Systems

Ein Interview von BUNTE HAND mit dem Entwickler von mathildr, Torben Rieckmann. Herr Rieckmann ist Sonderpädagoge und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. mathildr hat er im Rahmen eines Forschungsprojektes entwickelt.
 
BUNTE HAND: Herr Rieckmann, was ist die Geschichte hinter mathildr? 
RIECKMANN: Begonnen hat alles mit einer Studie, in der fast 1.300 Personen mit Trisomie 21, dem Down-Syndrom, untersucht wurden. Anhand der Ergebnisse dieser Studie konnte gezeigt werden, dass Menschen mit Trisomie 21 ihre Umwelt anders verarbeiten als Personen ohne Trisomie 21. Die meisten Menschen ohne Trisomie 21 können 4 Dinge gleichzeitig verarbeiten, Menschen mit Trisomie 21 verarbeiten 2-3 Dinge simultan. Das ist auch der Grund weshalb viele gewöhnliche Lernmaterialien und Lernwege nicht für Kinder mit Trisomie 21 geeignet sind. Problematisch ist für Kinder mit Trisomie 21 beispielsweise die Mengendarstellung, die in den üblichen Lernmaterialien zu finden sind.
 
BUNTE HAND: Ist mathildr spezifisch nur für Kinder mit Trisomie 21 gedacht? 
RIECKMANN: Das System wurde gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Trisomie 21 entwickelt. Es kann dennoch von allen Schülerinnen und Schülern verwendet werden, die Schwierigkeiten mit den herkömmlichen Lernmaterialien haben. In den meisten Schulen wird zur Darstellung von Mengen mit einer Fünferbündelung gearbeitet, die für Personen mit Trisomie 21, aber auch andere Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten nicht empfehlenswert ist. Dies betrifft z.B. auch Personen mit Prader-Willi-Syndrom oder einige autistische Schülerinnen und Schüler. Für sie ist die Zweierbündelung von mathildr entwickelt worden.
Wir haben außerdem positive Rückmeldung von Lehrerinnen und Lehrern erhalten, die mathildr Kindern ohne Beeinträchtigung anbieten, die mit den herkömmlichen Lernmaterialien nicht zurechtkamen.
 
BUNTE HAND: Was kann mathildr? 
RIECKMANN: Mit mathildr kann ein Kind das Zählen lernen und eine Mengenvorstellung entwickeln. Mit dem Material kann addiert und subtrahiert werden, auch die Differenzierung zwischen gerade und ungerade Zahlen wird vermittelt. Das Holz-Material deckt einen Zahlenraum bis 10 ab, mit der App wird ein Zahlenraum bis 20 abgedeckt. Das Ziel ist, dass die Kinder lernen, im Kopf zu rechnen.
 
BUNTE HAND: Was haben die verschiedenen Farben (gelb und rot) zu bedeuten? 
RIECKMANN: Die verschiedenen Farben der Kirschen kommen bei der Addition zum Tragen. Wenn ein Kind beispielsweise 4 +2 rechnet, dann nimmt es 4 rote Kirschen und 2 gelbe Kirschen, um die Gesamtmenge von 6 zu visualisieren. 
BUNTE HAND: Wieso Kirschen? 
RIECKMANN: Das ist eine interessante Geschichte: Während der Entwicklung von mathildr haben wir zunächst mit Punkten gearbeitet und haben festgestellt, dass einige Kinder Schwierigkeiten hatten beispielsweise die Mengenbilder von 7 und 8 zu differenzieren. Wir haben dann jeden Punkt mit einem senkrechten Strich versehen. Lagen zwei Punkte nebeneinander, neigten sich die Striche der beiden Punkte in dieser zueinander. Dadurch stechen ungerade Mengen deutlicher hervor. Diese Darstellung erinnerte an Kirschen, was wir dann in der grafischen Gestaltung bewusst aufgriffen.
 
BUNTE HAND: Eignet sich mathildr für den Inklusionsunterricht? 
RIECKMANN: Unbedingt, denn ein guter inklusiver Unterricht ist nicht durch Gleichmacherei zu erzielen. Stattdessen sollten die individuellen Fähigkeiten und Lernbesonderheiten aller Schülerinnen und Schüler berücksichtigt werden. Wichtig beim Einsatz von mathildr ist, dass der Unterricht gut vorbereitet werden muss. Wer auch immer mit dem Kind arbeitet, Eltern, Lehrerinnen, Lehrer, Therapeutinnen oder Therapeuten, muss sich vorab mit dem Material auseinandersetzen und dann einschätzen, welche Übungen zum momentanen Entwicklungsstand des Kindes passen. Wie selbständig das Kind dann anschliessend mit dem Material arbeitet, hängt von der individuellen Entwicklung des Kindes ab.
BUNTE HAND: Gibt es Pläne das Produkt weiter zu entwickeln? 
RIECKMANN: Ja, die gibt es und wir haben viele Ideen. Wann wir diese umsetzen können, hängt von der weiteren Finanzierung ab. Das mathildr-Projekt wird über den gemeinnützigen Verein Guter Unterricht für alle e.V.* finanziert. Dieser Verein ist auf Spenden angewiesen.
 
BUNTE HAND: Seit wann werden Kinder mit mathildr unterrichtet? 
RIECKMANN: Der Start der Forschung zu mathildr war 2015. Seitdem arbeiten an der Uni und an Schulen Kinder, Jugendliche und Erwachsene regelmäßig mit mathildr. Ihre Erfahrungen fließen in die Weiterentwicklung des Materials mit ein.
 
BUNTE HAND: Welches Feedback haben Sie zu mathildr erhalten? 
RIECKMANN: Wir erhalten sehr positives Feedback von Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, die festgestellt haben, dass Kinder, die zum Teil Aversionen gegenüber Zahlen und Rechnen hatten, die Mathematik für sich neu entdeckten und gerne mit dem Material arbeiteten.
Darüber hinaus wurde mathildr im letzten Jahr mehrfach ausgezeichnet und auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt, unter anderem durch ein Interview auf Zeit online**.
 
BUNTE HAND: Welche Auszeichnungen haben Sie erhalten? 
RIECKMANN: Wir haben im letzten Jahr den 1. Platz des niedersächsischen Inklusionspreises in der Kategorie Ehrenamt erhalten. Auf der didacta 2019, das ist die größte Bildungsmesse Europas, wurde das Projekt mit dem 3. Platz des Cornelsen Zukunftspreises ausgezeichnet. Außerdem führen wir das Cormenius-EduMedia Siegel***.
 
BUNTE HAND: Was raten Sie Eltern von Kindern, die sich mit dem Rechnen schwertun? 
RIECKMANN: Gehen sie gemeinsam mit ihrem Kind auf die Suche nach dem persönlichen Sinn des Rechnens. Lassen sie das Kind Dinge zählen, die ihm wichtig sind. Ganz egal ob es sich dabei um Schafe auf einer Weide, um Spielzeug-Dinos oder andere Dinge handelt. Zählen ist der erste Schritt des Rechnens. Wichtig ist, dass dem Kind das Rechnen sinnvoll erscheint.
 
BUNTE HAND: Was sagen sie einem Kind, das meint es könne nicht rechnen? 
RIECKMANN (lacht): Das glaube ich nicht. Ich bin mir sicher, du kannst rechnen! 
Und dann würde ich mit dem Kind auf Spurensuche gehen, um aufzuzeigen, in welchen Bereichen das Kind schon längst rechnet. Beispielsweise könnte man fragen wie viele Freunde zum Kuchenessen eingeladen werden können, wenn die Anzahl der Sitzplätze am Tisch limitiert ist. Rechnen ist oft negativ besetzt, vielen Kindern ist gar nicht klar, dass sie täglich mehrfach rechnen – und das ganz freiwillig.
 
BUNTE HAND: Herr Rieckmann wir bedanken uns für das Interview und freuen uns, dass wir mathildr in das BUNTE HAND Portfolio aufnehmen durften.
***Der Comenius-EduMedia-Award (auch kurz: Comenius-Award) wird seit 1995 jährlich von der Gesellschaft für Pädagogik, Information und Medien (GPI) verliehen. Mit der Auszeichnung fördert die GPI vor allem pädagogisch, inhaltlich und gestalterisch herausragende didaktische Multimedia-Produkte.
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